#Glanzpunkt 3: Das Gedicht „Ginkgo-biloba“ aus dem „West-östlichen Divan“

Johann Wolfgang von Goethe,
Eigenhändige Niederschrift seines Gedichts „Ginkgo biloba“, [Frankfurt, Gerbermühle], 15. September 1815

Dieses Baums Blatt, der von Osten
Meinem Garten anvertraut,
Giebt geheimen Sinn zu kosten,
Wie ‘s den Wissenden erbaut.

Ist es Ein lebendig Wesen
Das sich in sich selbst getrennt,
Sind es zwey die sich erlesen,
Dass man sie als eines kennt.

Solche Frage zu erwiedern
Fand ich wohl den rechten Sinn;
Fühlst du nicht an meinen Liedern
Dass ich Eins und doppelt bin?

Sie haben eine der wertvollsten Handschriften der Kippenberg-Sammlung als Faksimile vor Augen. Das Original befindet sich in der „Schatzkammer“ des Goethe-Museums.

Die Niederschrift ist datiert auf den 15. September 1815. Für diesen Tag vermerkt Goethes Freund Boisserée in sein Tagebuch: „Heiterer Abend; Goethe hatte der Wilmer ein Blatt des Gingko biloba als Sinnbild der Freundschaft geschickt aus der Stadt [Frankfurt]. Man weiß nicht, ob es eins, das sich in 2 teilt oder zwei, die sich in eins verbinden. So war der Inhalt des Verses.“

Die „Wilmer“ ist Marianne von Willemer (1784-1860). Sie ist die einzige von Goethes „Musen“, die auch als Mitautorin seiner Werke in Erscheinung trat: von ihr stammen mindestens drei Gedichte aus dem Zyklus „West-östlicher Divan“. Dabei handelt es sich um Goethes einzige eigenständige Gedichtpublikation und sein umfangreichstes lyrisches Werk.

Von dem Gedicht existieren drei Fassungen. Die erste datiert auf den 27. September 1815 und ist Teil eines Briefes von Goethe an Rosette Städel (geb. von Willemer). Die hier vorliegende zweite Fassung ist Beilage eines Briefes von Goethe an den Herzog Carl August von Sachsen-Weimar am 10. März 1820. In der Schreibweise „Gingo biloba“ folgt schließlich die dritte Fassung in der Buchausgabe des „Divan“ von 1819.

 


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